Archiv für den Monat: November 2013

Aus der Schreibstube: Romananfänge

 

Aller Anfang …

Der erste Satz eines Romans – wie viel Bedeutung wird dem beigemessen! Nicht zu Unrecht, entscheidet er doch oftmals, ob der Leser, die Leserin in die Geschichte hineingesogen wird oder nicht.

Sol Stein sagt in seinem Buch „On Writing“, dass die Leser auf den ersten drei Seiten eines Buches entscheiden, ob sie es lesen wollen oder nicht.

Drei. Seiten. Das ist nicht viel, möchte man denken. Doch mit ein wenig Handwerkskunst benötigt man dafür nicht viel mehr als drei Absätze. Wie also kann man seinen Text so faszinierend gestalten, dass der Leser, die Leserin hängen bleibt und weiterlesen möchte?

Sol Stein sagt uns, ein Anfang solle drei Wünsche erfüllen:

  1. die Neugier des Lesers, der Leserin wecken, bevorzugt über einen Charakter oder eine Beziehung
  2. das Setting der Geschichte vorstellen
  3. der Geschichte Resonanz verleihen

Hauptsächlich muss ein Romananfang eines sein: spannend. Und diese Spannung kann auf unterschiedliche Arten und Weisen hervorgerufen werden.

Da diese drei Punkte mehr oder weniger leicht nachzuvollziehen sind, drösele ich sie hier einmal an mehr oder weniger aktuellen Beispielen auf.

 

Setting

Dass Punkt 2 bei der Eröffnung jeder Geschichte wichtig ist, erschließt sich von selbst. Um eine Handlung nachvollziehen zu können, sollten wir als Lesende schon darüber „ins Bild gesetzt“ werden, ob es sich um einen phantastischen Roman mit Orks und Elfen, ein Science-Fiction-Buch auf einer Station im All oder einen historischen Roman im Wilden Westen handelt.

Tatsächlich kann man die Enthüllung des tatsächlichen Settings zur Erzeugung von Spannung auch hinauszögern und es erst Absätze später enthüllen. Die Desorientierung des Lesenden wird genutzt, um ihn wachzurütteln. Meist aber nutzt ein Autor, eine Autorin die ersten Sätze zur Verortung der Lesenden. Christoph Marzi tut dies sehr elegant in „Lyzidas“:

„Die Welt ist gierig, umd manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren. Emily Laing erfuhr dies, bevor ihre Zeit gekommen war. Als sie meinen Weg kreuzte, flüchtete sie vor denen, die ihr eine Zukunft versprochen hatten, jenen, die täuschen und lügen und betrügen und dafür sorgen, dass das Lächeln in Kindergesichtern traurig und unecht wirkt.“

Zwar wird kein physikalischer Ort beschrieben, wohl aber die Welt, in der der Erzähler und Emily leben – und diese Welt wird als hart und unerbittlich charakterisiert. Wir bekommen erst im folgenden Satz die tatsächliche Info, wo sich die Figuren befinden, nämlich in London, Tottenham Court Road. Doch diese Information ist hinter der Schilderung der Zustände nachrangig.

Beinahe unter der Hand erfährt man, dass Emily wohl nicht sehr lange durchhalten wird, und dass sie auf der Flucht vor Menschen ist, die sich wenig um Kinder scheren. Man wird neugierig darauf, wie es mit diesem Charakter weitergeht.

 

Neugier

Auf Punkt 1 kann ein moderner Autor, eine moderne Autorin wohl kaum verzichten. Wer nicht die Neugier seiner Leserschaft weckt, langweilt sie – ein Kapitalverbrechen für jeden Geschichtenerzähler. Doch wie reizt man die Neugier der Menschen?

Spannung, Staunen oder widersprüchliche Aussagen über einen Charakter oder eine Situation am Anfang eines Romans sind gut dazu geeignet. Kai Meyer tut das in seinem von mir sehr verehrten Romananfang in „Die Geisterseher“. Ich darf zitieren:

„Am Morgen jenes Tages, an dem Gott, der Herr, von seinem Thron stieg und tot zusammenbrach, war die Milch in ihren Krügen geronnen wie Blöcke aus weißem Porzellan.“

Allein der erste Satz bietet mit den beiden Spannungsfeldern „Gott“ <–> „tot zusammenbrach“ eine großartige Eröffnung, mir blieb beim ersten Lesen geradezu die Spucke weg. Doch Kai hört dort nicht auf, denn der zweite Teil des Satzes bildet wiederum ein Spannungsfeld mit dem ersten. Warum ist die geronnene Milch so wichtig, dass sie in einem Satz mit dem sterbenden Gott erwähnt wird? Und auch das Ende des Satzes desorientiert den Leser weiter. Kann geronnene Milch wirken wie Blöcke aus weißem Porzellan?

Warum stehen diese beiläufig wirkenden Informationen über die geronnene Milch, den Krug, das Porzellan überhaupt im ersten Satz? Zunächst kontrastiert das interessante, aber banale Ereignis am Satzende großartig mit dem überhaupt nicht banalen am Satzanfang, nämlich, dass Gott tot von seinem Thron kippt.

Gleichzeitig stellt Kai das Setting mit vor. Die Milch ist zu einem festen Block geronnen, sie kann also nicht homogenisiert sein. Sie wird in Krügen geliefert, nicht in Tetrapacks oder Kaffeetassen – es handelt sich also nicht um einen Roman, der im 20. Jahrhundert spielt. Auch das „Porzellan“, das nur der Farbe nach mit der Milch einhergehen will, ist ein Marker, denn die Handlung findet im 19. Jahrhundert statt, der Hochzeit der Porzellankultur. Die konkrete Benennung des Settings zögert Kai zunächst hinaus, man erfährt sie erst am Ende der Seite.

Und auch die dritte Anforderung von Sol Stein erfüllt „Die Geisterseher“: die Geschichte besitzt von Anfang an Resonanz. Und was für welche. A propos:

 

Resonanz

Was aber umfasst Sol’s Punkt 3 genau? „Resonanz“, der komplexeste Teil des Sol’schen Dreigestirns, sagte mir zunächst nicht viel, „resonieren“ aber sehr wohl. Verursacht die Geschichte Schwingungen in meiner Seele, meinem Verstand, meinem Bauch? Handelt es sich bei ihr um einen runden Kosmos, bei dem alle Teile die jeweils anderen beeinflussen? Oder sind sie flach, eindimensional, ohne mich zu berühren? Passen Stil und Sprache zur Geschichte?

Gute erste Sätze umfassen bereits in sich, worum es in dem Roman gehen wird. Eines meiner Lieblingsbücher, „Pride and Prejudice“ von Jane Austen, hat einen so ikonischen Satz geprägt, der sowohl Ton, Inhalt und Problem der Geschichte umfasst:

„It is a truth universally acknowledged that a single man in possession of a good fortune must be in want of a wife.“

Der Leser erfährt, dass es ums Heiraten geht (und die Gründe dafür, das liebe Geld), dass gesellschaftliche Ansprüche eine Rolle spielen („a truth universally acknowledged“) und dass die Erzählerin des Romans über eine gehörige Portion Sarkasmus verfügt, denn die aufgestellte Behauptung ist natürlich sowohl übertrieben wie auch schlicht falsch, auch wenn es sich viele Mütter unverheirateter Töchter anders wünschen würden. Gleichzeitig mag man in dieser Sprache einfach baden, so elegant, geschwungen und herrlich spitz ist sie.

Jane Austen erfüllt mit diesem einen Satz alle drei Anforderungen: Der Satz resoniert, sagt mir, wovon das Buch handelt und macht neugierig darauf, wer Mann und Frau sind, die da offenbar in Beziehung gesetzt werden.

 

… ist schwer

Und nun? Wie einen so fantastischen ersten Satz finden, dass er diese drei Kriterien erfüllt? Hier ein paar praktische Tips.

  1. Kennen Sie Ihre Figuren. Wo liegt der Konflikt ihrer Hauptfigur – oder jener, mit der Sie in das Buch einsteigen? Legen Sie den Finger sofort in die Wunde, deuten Sie den Konflikt zumindest an.
  2. Kennen Sie Ihre Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten. Handelt es sich um einen Urban-Fantasy-Buch? Deuten Sie einen Hauch des Übernatürlichen an. Ist es ein Western? Lassen Sie eine der Figuren „Howdy“ oder „Grünhorn“ sagen.
  3. Kennen Sie das Thema Ihres Buches. Geht es um die Rebellion gegen eine übermächtige Allianz? Ums Heiraten zum Wohl der Familie? Um Rauch und Schatten? Versuchen Sie, das Hauptthema bereits hier einzuführen, und sei es nur durch ein Wort, einen Satz.

Zusammenfassend kann man sagen: Schreiben sie den ersten Satz zuletzt, denn dann wissen Sie, was zur Hölle Sie da eigentlich tun.

 

Viel Spaß beim Schreiben.

 

 

Stoker, Schiller und der Briefroman

Neben vielen historischen Ereignissen birgt der 8. November auch ein literarisches – heute vor 166 Jahren wurde Bram Stoker geboren.

Der Ire, der zwölf Romane und viele Kurzgeschichten schrieb, wurde mit einer einzigen Schöpfung so unsterblich wie seine Hauptfigur – die Rede ist natürlich von seiner literarischen Aufarbeitung des Vamiprmythos in dem Briefroman Dracula.

Stoker ist nicht der erste Autor, der sich dem Vampir widmete. Bereits John Polidoris The Vampyre (1819) und Carmilla von Joseph Sheridan LeFanu (1872) hauchen den Blutsaugern leben ein, doch es bleibt Stoker vorbehalten, dem Mythos seine wahren Unsterblichkeit zu verleihen.

Meine persönliche Begegnung mit Bram Stoker’s Dracula fand im Alter von elf Jahren statt. Ich verschlang das Buch von der ersten bis zu letzten Seite. Es wird mir als eines von drei Büchern, die meine Lese- und Schreibgewohnheiten am meisten geprägt haben, stets in liebevoller Erinnerung bleiben.

Was fasziniert mich an Dracula? Nicht nur die Hauptfigur mit ihrer subversiven, zwischen Erotik und Tod mäandernden Metapher. Bram Stoker’s Helden verbindet eine Treue und Aufrichtigkeit, wie sie nur wahre Gefährten kennen, eine Zielgerichtetheit, für das Wohl der Welt großes Leid (und schlimmsten Verlust) auf sich zu nehmen, die gute (Roman-)Helden ausmacht sowie eine Empfindsamkeit, die einen großen Reiz des Romans ausmacht.

Besonders schätze ich aber die Erzählform des Buches. „Dracula“ ist ein Briefroman, von denen es in dieser Welt meines Erachtens deutlich zu wenige gibt. Wie Schillers „Geisterseher“ entsteht die eigentliche Handlung sowie ein Großteil der Spannung nicht in den präsentierten Texten, die aus Tagebucheinträgen, Memoranden, Briefen, Notizen und Nachrichten bestehen, sondern zwischen ihnen – in der immer weiter aufragenden Kluft der Informationen zwischen den handelnden Figuren.

Es gibt nur einen Charakter, in dessen Händen das vollständige Bild der Handlung zusammenläuft – und das ist der Leser, die Leserin selbst. Und so will man mit jedem neuen Eintrag die Hände in die Seiten krampfen, während man beobachten kann, wie die Helden unwissend in ihr Verderben zu laufen scheinen, während man selbst, als später Zeitzeuge so echt wirkender Dokumente, zur Tatenlosigkeit verdammt ist.

Auch Friedrich Schiller widmet sich in seinem „Geisterseher“ dieser Schreibform – bis auf die langwierigen philosophischen Teile vom Spannungsaufbau ebenfalls meisterhaft komponiert – und beweist damit ein großes Gespür für die Prosa. Schiller konditioniert seine Leser geradezu darauf, zwischen den Zeilen zu lesen und zu verstehen, was die handelnden Fiugren in ihrer Beschränktheit doch nicht sehen können.

Ich kehre an diesem regnerischen Novemberabend nun mit einer heißen Tasse Tee und Bram Stoker’s Dracula auf mein Sofa zurück und lasse mich gruseln.

Herzlichen Glückwunsch, Bram, wo auch immer du sein magst – sterblich oder usnterblich.

The Future of Storytelling – ein Kurs der Fachhochschule Potsdam

Nach langer, langer Zeit seit dem Literaturstudium habe ich mich mal wieder zu einem Erzählkurs angemeldet – online. Er findet unter Iversity.org statt und wird von der Fachhochschule Potsdam abgehalten.
Die ersten beiden Kapitel des Lehrinhaltes haben für noch nicht viel Neues gebracht; aber da laut der Dozentin sowohl Anfänger/innen wie Profis etwas aus dem Kurs mitnehmen sollen, wäre das für die Einführungskapitel vielleicht auch etwas viel verlangt.

Mich interessieren an dem Erzählkurs hauptsächlich die didaktischen Strukturen der Weboberfläche sowie die Vermittlung des Inhaltes – wo fängt das Kapitel an, wo hört es auf? Und befasst sich der Kurs wirklich mit der „Zukunft des Erzählens“, wie versprochen wird?

Die ersten beiden didaktischen Aufgaben sind für Einsteiger ins Erzählen eine gute Übung.

1. Welcher Film hat mir am besten gefallen, und warum? Was hat mich beeindruckt?

2. Charakterprofil meines Lieblings-Seriencharakters ausfüllen. Was legt ihn mir ans Herz?

 

Ich kann nur empfehlen, Bücher zu lesen, Filme zu schauen, Serien zu konsumieren – prinzipiell Geschichten zu „lesen“, wo auch immer man sie findet. Durch die Analyse von guten Geschichten und Figuren lernt man, was funktioniert und was nicht.